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Vom Reptiliengehirn zur reflektierenden Vernunft – warum Traumareaktionen unwillkürlich ablaufen

Unser Gehirn ist ein faszinierendes Produkt der Evolution. Es trägt Spuren aus Millionen von Jahren Entwicklungsgeschichte in sich – vom uralten Reptiliengehirn über das emotionale Säugetiergehirn bis hin zum hochentwickelten Primatengehirn, dem Neocortex. Dieses Zusammenspiel erklärt, warum wir in Gefahrensituationen manchmal instinktiv handeln und warum gerade traumatische Erfahrungen so schwer allein mit rationalem Denken zu bewältigen sind.

(Quelle aller Grafiken: nicabm.org)

 

 

 

Die drei Schichten des Gehirns

Das Reptiliengehirn – das älteste Erbe

 

Der älteste Teil unseres Gehirns wird oft als Reptiliengehirn bezeichnet. Er umfasst Hirnstamm und Kleinhirn und steuert grundlegende Funktionen wie Atmung, Herzschlag und Reflexe. Vor allem in bedrohlichen Momenten schaltet es blitzschnell in Überlebensprogramme: Kampf, Flucht, Erstarren oder sogar Zusammenbruch. Diese Reaktionen laufen ohne unser Zutun ab – noch bevor wir bewusst wahrnehmen, was eigentlich passiert. 

 

„Du duckst dich, bevor du merkst, dass du dich ducken musst“

 

Das Säugetiergehirn – Sitz der Gefühle

 

Mit den ersten Säugetieren entwickelte sich eine neue Schicht: das limbische System. Hier sitzen die Amygdala, der Hippocampus und der Hypothalamus. Dieses Netzwerk steuert unsere Emotionen, Bindungen und Erinnerungen. Die Amygdala ist dabei eine Art „Frühwarnsystem“: Sie registriert blitzschnell mögliche Gefahren und aktiviert Stressreaktionen. Der Hippocampus verknüpft Erlebnisse mit Erinnerungen – doch bei traumatischen Erfahrungen kann er überlastet werden, sodass Erinnerungen fragmentiert und nicht in eine klare Geschichte eingebettet sind.

 

Das Primatengehirn – Zentrum der Vernunft

 

Die jüngste Schicht ist der Neocortex, besonders ausgeprägt beim Menschen. Er ermöglicht uns Sprache, logisches Denken, Empathie, Planung und Selbstreflexion. Idealerweise kann er die Impulse der tieferen Gehirnareale regulieren. Doch in akuten Stress- oder Trauma-Situationen wird genau diese Kontrollfunktion oft blockiert – der Verstand ist „offline“, während die älteren Systeme übernehmen.

 

Warum Traumareaktionen unwillkürlich ablaufen

Bei Gefahr entscheidet nicht der Verstand, sondern das Reptilien- und Säugetiergehirn. Diese Ebenen reagieren tausendfach schneller als der Neocortex. Deshalb ducken wir uns, bevor wir merken, dass etwas auf uns zufliegt. Und deshalb geraten traumatisierte Menschen auch in eigentlich sicheren Situationen in Panik oder Erstarrung: Das Reptiliengehirn aktiviert ein überlebensnotwendiges Programm, ohne den Kortex zu fragen.

 

Traumaforschung zeigt, dass dabei die Amygdala überaktiv wird, während der präfrontale Kortex, also der Teil unseres Gehirns für rationales Denken und Steuerung, zeitweise heruntergefahren ist. Gleichzeitig ist der Hippocampus, der für die zeitliche Einordnung von Erinnerungen zuständig ist, beeinträchtigt. Das erklärt, warum traumatische Erinnerungen oft wie „jetzt“ erlebt werden, statt als etwas Vergangenes.

Auch die NICABM (National Institute for the Clinical Application of Behavioral Medicine) betont: In einer akuten Trauma- oder Angstreaktion übernimmt das Reptiliengehirn. Erst nachträglich schaltet sich der Neocortex wieder ein – was häufig zu Gefühlen von Scham oder Verwirrung führt, weil Betroffene im Nachhinein nicht verstehen, warum sie so „irrational“ reagiert haben.

 

Wege zur Regulation

Das Wissen um diese neurobiologischen Abläufe ist ein Schlüssel zur Heilung. Denn es zeigt: Traumareaktionen sind keine Willensschwäche, sondern eine automatische, tief im Nervensystem verankerte Schutzreaktion. Heilung bedeutet nicht, das Reptiliengehirn „abzuschalten“, sondern die Zusammenarbeit der drei Ebenen wiederherzustellen.

Körperorientierte Methoden wie Achtsamkeitspraxis, Thai Yoga Massage, Autogenes Training oder Atemübungen helfen, das Nervensystem zu beruhigen und den Kortex schrittweise wieder einzubeziehen. So können traumatische Erinnerungen nach und nach integriert und Regulation wieder möglich werden.

 

Unser Gehirn erzählt eine evolutionäre Geschichte: Instinkt, Gefühl und Vernunft sind Schichten, die einander ergänzen – doch in Notlagen übernimmt das älteste System. Wer Traumareaktionen besser versteht, erkennt, dass sie unwillkürlich sind und nicht durch bloße Willenskraft kontrolliert werden können. Dieses Wissen öffnet die Tür für Mitgefühl – mit sich selbst und mit anderen – und legt die Grundlage für Heilungswege, die den ganzen Menschen einbeziehen.

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